Warum ins Ausland gehen?
Vincent Zettl, eines der jüngsten Mitglieder des SPD-Ortsvereins Bad
Gandersheim, leistet ein Freiwilliges Soziales Jahr in Neuseeland ab und
arbeitet dort mit behinderten Menschen. Sein Bericht zeigt: Menschliches
Engagement ist weltweit nötig und gefragt.
Lesen Sie hier den Bericht von Vincent Zettl:
Peter kommt aus Griechenland. Rogier kommt ursprünglich aus Holland und ist ganz furchtbar neugierig. Wenn ich in meiner Pause am Computer Gruppen vorbereite kann ich mir sicher sein, dass er alle paar Minuten mal vorbeikommt und über die Schulter guckt, was da so an interessanten Dingen im Internet passiert. Andrew ist mehr wissbegierig und das auf manchmal sehr anstrengende Art und Weise. Er formuliert grundsätzlich alles als Frage und wird sich mit „Nein“ als Antwort niemals zufrieden geben.
Gemeinsam haben diese und alle anderen Personen im „ACE House“, dass sie in der Allgemeinheit als geistig behindert angesehen werden. Der Duden definiert „Behinderung“ dabei als „Beeinträchtigung, […], Komplizierung, Störung, […]“ (vgl. duden.de) und ich möchte dem hier in gewisser Weise widersprechen. Im Englischen ist der Unterschied zwischen einer Fähigkeit und einer Unfähigkeit wenigstens schriftlich nicht sehr groß. Behinderung entspricht dem englischen Wort „disability“. Das Schild an unserer Tür besagt jedoch viel mehr, dies sei ein Ort „for people with intellectual abilities“. Andrew kann mir am Nachmittag wörtlich wiedergeben, was er am Morgen über Katzen gelesen hat. Und nicht in einem Satz sondern als kompletten Wikipedia-Artikel! Lee sitzt im Rollstuhl und kann sich nur mühsam verständigen aber hat trotzdem lange Zeit Neuseeland bei den „Special Olympics“ vertreten. Louisa kann weder hören noch sehen, sprechen oder riechen. Trotzdem hilft sie beim Kochen so gut sie kann und man könnte mit ein bisschen Phantasie fast meinen, dass sie sich ein wenig über all die merkwürdigen Zutaten freut, wenn wir mal etwas exotischer kochen.
Diese „behinderten“ Menschen sind also in vielerlei Hinsicht mindestens gleich fähig wie jeder Andere. Daneben habe ich das Gefühl durch ihre „Abilities“ bewegen sie sich in ihrer Umwelt viel aufmerksamer als „normale“ Menschen und geben dabei den kleinen Dingen im Leben viel mehr Wert. Zwar gibt es hier von dicken Freundschaften über Sticheleien zu gebrochenen Herzen so gut wie Alles aber trotzdem kann man sich immer sicher sein, dass Jeder gleich zur Stelle ist, wenn mal eine helfende Hand benötigt wird und überhaupt schenkt man sich hier viel mehr Beachtung.
Beachtung kriegen sie alle auch auf der Straße. Aber die Passanten im Bus nehmen sicherheitshalber ihre Taschen auf den Schoß oder setzen sich lieber gleich wo anders hin. Damit möchte ich kein Bild der neuseeländischen Gesellschaft zeichnen. - Im Gegenteil. Die Menschen sind meiner Meinung nach hier grundsätzlich viel offener und hilfsbereiter als in europäischeren Gefilden.
Trotzdem bewerten wir Menschen uns doch gegenseitig noch immer viel zu sehr nach dem Äußeren und dem ersten Eindruck. David ist einer unserer älteren Klienten. Er wurde mit dem ‚Down Syndrome‘ geboren und leidet unter starken Gefühlsschwankungen. Wegen falscher Behandlung und langem Ignorieren seiner Fähigkeiten hat er sich sehr in sich selbst zurückgezogen. In meinen dreieinhalb Monaten habe ich mich u.a. um ihn ganz besonders gekümmert und er hat bei wöchentlichem Training im Fitnessstudio schon ganz immens Gewicht verloren. Als er mich dann vor ein paar Wochen in einem städtischen Bus gesehen hat, wurde ich ganz überschwänglich begrüßt und umarmt. Das bescherte mir viele sehr ungläubige Blicke und ich hatte das Gefühl, dass Einige mir schon zu Hilfe eilen wollten um mich von dem „Monster“ zu befreien.
David und all die anderen Menschen in meiner Arbeit sind jedoch genau das Gegenteil. Für mich sind sie die Helden, die ihre Kraft und Fähigkeiten aus ihren Handicaps ziehen.
In diesen Menschen finde ich einen Willen Dinge anzupacken und bis zum Ende durchzuhalten, wie ich es noch nirgends in ähnlicher Weise gesehen habe. Es ist ein wunderschönes Gefühl, wenn ich einem Mann, der dreimal so alt ist wie ich und noch nie das Alphabet gelernt hat, die Zeichensprache beibringen kann. Es ist ein wunderschönes Gefühl zu sehen, wie David jede zweite Woche seinen Gürtel ein Loch enger schnallt. Und auch Peter und Rogier und Andrew sind Helden mit ihren ganz eigenen Eigenheiten.
Ich bin sehr dankbar, dass meine Eltern, mein Komitee und viele Menschen in der Gemeinde diese Erfahrung trotz öffentlicher Kritik möglich machen. Vor meiner Abreise habe ich mich schon in meinem persönlichen Umkreis vielfältig engagiert und viel Verantwortung übernommen um für Menschen einen Unterschied zu machen. Hier sehe ich jetzt, dass meine Initiative ankommt, ohne dass einer der Klienten jemals sagen würde: „Danke, dass du mich betreust!“ Viel mehr versuche ich an meine Arbeit so heranzugehen, dass ich jeden Tag mit Jedem etwas erreiche und dabei trotzdem immer mehr als Kumpel erscheine. So gut wie jeder meiner Klienten ist älter als ich und es wäre respektlos und falsch sie als Schüler oder Patienten zu behandeln.
Alan, der sich nicht wirklich verständigen kann und rund um die Uhr eine Pflegeperson braucht ist neben dem ACE House mein zentrales „Projekt“. Ihn betreue ich oft abends oder an Wochenenden, wenn er nicht im ACE House von jemand Anderem betreut wird. Obwohl er nicht spricht und sich in vielerlei Hinsicht trotz seinen 30 Jahren wie ein Vorschulkind benimmt, so bemerkt er doch den Unterschied, ob ich als Freund mit ihm Zeit verbringe oder als Lehrer sage was richtig und was falsch ist. Ersteres macht ihm dabei natürlich sehr viel mehr Spaß und eine der größten Herausforderungen in diesem Job ist vermutlich, Dinge einfach und spaßig aussehen zu lassen und dabei trotzdem noch Lerninhalte zu verstecken.
Je mehr man dabei mental in diese Arbeit investiert, desto mehr bekommt man jedoch am Ende des Tages auch an Erfolgserlebnissen zurück und das ist für mich jeden Morgen Motivation nur mein Allerbestes zu geben. Persönlich hat mich diese Arbeit schon zu einer viel aufmerksameren und sensibleren Person gemacht und ich bin froh, dass man mir diese Möglichkeiten gegeben hat.
Es ist vermutlich richtig, dass ich eine ähnliche Arbeit auch in Deutschland hätte leisten können. Vermutlich hätte ich dann zu Hause wohnen bleiben können und ganz ordentlich Geld verdienen können. Durch dieses FSJ geht der Großteil an Spenden in die Projekte weltweit und ich „verdiene“ nur die Extra-Erfahrung in einer anderen Kultur.
Es sei jedem freigestellt dies zu bewerten doch ich bin persönlich der Meinung, dass ich meinen jugendlichen Horizont nur dadurch wirklich erweitern konnte, dass ich darüber gesprungen bin und mich bereit erklärt habe meine Kultur und meine gesamtes Weltbild zurückzustellen um mich auf eine neue fremde Kultur einzulassen. Ich könnte neben Toleranz und Altruismus etliche Werte aufzählen, die dieser Kulturaustausch nicht nur mir sondern allen Menschen die sich damit auseinandersetzen (z.B. mit dem Lesen dieses Artikels) bringt. Ich kann andere Menschen nicht verändern aber ich kann wenigstens versuchen Aufmerksamkeit zu erwecken. Eine eigene Meinung darf sich selbstverständlich jeder Mensch selbst bilden.
In den Nachrichten ist ein Mann vor Gericht, der eine Ägypterin erstochen hat, weil er der Meinung ist, dass sie kein Recht auf Anwesenheit habe. „Behindert“ ist unter Jugendlichen zu einem Schimpfwort verkommen, weil das Individuum bei dem heutigen Informationsüberschuss oft einfach weniger über Hintergründe reflektiert. Wo führt all das hin, wenn wir nicht über unsere Gemeinde hinaus in die Welt blicken?
Bitte schreiben Sie mir. Ich freue mich über konstruktive Kritik: v.zettl@yahoo.com
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Fotos: Vincent Zettl